Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Altreformiert 1933

Helmut Lensing

Die altreformierte Kirche im Jahr 1933

Vom Schwanken bis zur entschiedenen Ablehnung 

Im Zeitalter der Aufklärung gewannen um die Wende zum 19. Jahrhundert in der niederländischen reformierten Kirche Theologen maßgeblichen Einfluss, die vom Liberalismus und Rationalismus geprägt waren und aus dieser Sicht die Bibel interpretierten. Sie standen dem Staat und der Regierung nahe, die sich zunehmend um interne Kirchenbelange kümmerten. 

Dagegen regte sich Widerstand, geführt vom Pastor Hendrik de Cock (1801-1842). 1833 wurde er deshalb seines Amtes enthoben. Nach weiteren Maßregelungen durch seine Kirche trennte er sich am 13. Oktober 1834 mitsamt seiner Gemeinde offiziell von der staatsnahen reformierten Kirche, um – so seine Absicht – in der reformierten Kirche die alte Lehre wieder herzustellen. 

Pastor der Cook kam auch in die Grafschaft, wo seine neue Gemeinschaft ebenfalls Anhänger gefunden hatte. 1838 wurde in Uelsen die erste deutsche Gemeinde der Altreformierten, wie sie sich hier nannten, gegründet. Der reformierte Bentheimer Oberkirchenrat reagierte auf diese „Separatisten“ oder „Sektierer“, wie er sie bezeichnete, sogleich mit harten Gegenmaßnahmen. 

Zusammen mit der Auswanderung von Altreformierten in die Niederlande, aus der immer wieder Prediger für die Gemeinden geholt wurden, und in den USA sorgte dies dafür, dass die altreformierte Freikirche im Bentheimer Land eine kleine, kaiser- und regierungstreue Minderheit von rund fünf Prozent der Bevölkerung blieb. Diese konzentrierten sich in der Niedergrafschaft. Laut der altreformierten Kirchenzeitung „Der Grenzbote“ vom 11. Februar 1933 hatte die Altreformierte Kirche, die neben der Grafschaft in Deutschland nur noch in Ostfriesland einige Gemeinden gegründete hatte, Anfang 1933 in dreizehn Gemeinden 4282 Glieder. 

Die Altreformierten und das Aufkommen der NSDAP

Politisch standen die konservativen und antisozialistischen Altreformierten in der Endphase der Weimarer Republik auf Seiten des dezidiert protestantischen „Christlich-Sozialen Volksdienstes“ (CSVD), der im Bentheimer Land eine Hochburg auf Reichsebene aufbaute, oder der ebenfalls protestantisch geprägten, aber antidemokratischen „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP), in der viele Grafschafter reformierte Prediger aktiv waren. 

Der Laarer altreformierte Pastor Jannes van Raalte, ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten, der später deswegen ins KZ kam. Foto: Archiv der Synode der Altreformierten Kirche in Niedersachsen, Wilsum

Pastor Egbertus Kolthoff, führender theologischer Kopf der deutschen Altreformierten und Herausgeber der altreformierten Kirchenzeitung „Der Grenzbote“. Foto: Archiv der Synode der Altreformierten Kirche in Niedersachsen, Wilsum

Die NSDAP wurde hingegen von den altreformierten Pastoren entschieden abgelehnt. So schrieb direkt vor der Reichstagswahl von 1930, die der NSDAP zum Durchbruch verhalf, der aus den Niederlanden stammende Pastor Jannes van Raalte (1894-1982) aus Laar in der altreformierten Kirchenzeitung „Der Grenzboten“ vom 6. September 1930: „Es hat sich in der letzten Zeit eine neue Partei stark vorgedrängt, und wir haben den Eindruck bekommen, daß es auch Reformierte (Alt-ref.) gibt, welche für sie stimmen werden, und ich möchte davor nachdrücklich warnen!! Wir meinen die National-sozialisten. Wir wollen gerne annehmen, daß sie es nach ihrer Weise gut vorhaben, aber u. E. darf ein Christ dieser Partei seine Stimme nicht geben. Denn wenn sie auch so reaktionär ist wie irgend eine Partei sein kann, und wie keine sonstige Partei den Sozialismus und den Kommunismus bestreitet, was an sich lobenswert ist, so ist sie doch – soviel wir wissen – revolutionär, und deshalb dürfen wir sie nicht unterstützen“

Da auch die Deutschnationalen immer weiter nach rechts wanderten, rief er zur Wahl des CSVD auf. Diese wurde – nur für diese eine Wahl – knapp vor der NSDAP zur stärksten Partei im Landkreis, da auch viele sehr kirchlich gesinnte Reformierte diese neue politische Partei wählten.

Schwankende Haltung – Die Altreformierten in der ersten Jahreshälfte 1933

In der kleinen Freikirche gab es einen Altreformierten aus Esche, aktiv in der Veldhauser Gemeinde und der Kommunalpolitik, der sich bei den Nationalsozialisten engagierte und den staatlichen Behörden über die Haltung seiner Kirche und deren Pastoren heimlich Bericht erstattete. Erzürnt darüber, dass sich die Altreformierten nach dem Beginn der Kanzlerschaft Hitler nicht umgehend dem „nationalen Aufbruch“ anschlossen, meldete er am 4. Juli 1933 in einem Brief etwas ungelenk: „Von Holland hat man nicht nur die Gemeinden kirchlich, sondern auch politisch beeinflußt, weil von dort her die Parole ausgegeben wurde, dass der ev. Volksdienst die antirevolutionäre Partei Deutschlands sei und dieselbe daher zu unterstützen sei. Bes. Pastor van Raalte [Abb. 1] aus Laar hat sich besonders darum bemüht. Hitler und der Nationalsozialismus war[!] ihm stets ein Dorn im Auge. Er hat es sogar fertig gebracht, in einem aus einer holl. Zeitung übernommenen Artikel unter der Ueberschrift „Hitler und der ewige Jude“, den ewigen Juden als unsern Herrn Jesus Christus, den Repräsentanten des Christentums, und Hitler als den Repräsentanten des germanischen Heidentums hinzustellen“.

Im altreformierten „Grenzboten“ zeigten die Artikel des herausgebenden Veldhauser Pastors Egbertus Kolthoff (Abb. 2) 1933 noch lange in der Beurteilung der neuen politischen Lage Unentschlossenheit und Schwanken. Einerseits angezogen von der Aufbruchstimmung und der pro-christlichen Rhetorik der NS-Propaganda sowie der tief sitzenden Treue zur gottgegebenen Obrigkeit, äußerte Pastor Kolthoff andererseits aber auch vorsichtig Bedenken. Doch zur neuen Obrigkeit wollte das Blatt zunächst keine entschiedene Opposition einnehmen und fand deshalb neben einigen kritischen Worten noch lange viel Positives an den „Deutschen Christen“.

Die Altreformierten gehen auf Distanz zur NS-Regierung

Die von der NS-Regierung forcierte Einführung eines evangelischen „Reichsbischofs“ sorgte im „Grenzboten“ vom 20. Mai 1933 für kritische Töne: „Es gibt aber Anzeichen anderer Art, auf die unsere Mitarbeiter nicht hinweisen konnte[n], die uns mit Sorge für die Zukunft der protestantischen Kirche in Deutschland erfüllen. Zuerst dies, daß eine starke Strömung vorhanden zu sein scheint, die die Kirche doch wieder zu einer Staatskirche machen will. … Eine zweite, nicht weniger bedeutsame Erscheinung ist, daß man die Bischöfe wieder einführen will, jetzt als kirchliche Würdenträger. … Mit Interesse warten wir ab, was aus diesen Plänen wird. Kämen sie zur Durchführung, so hoffen wir, daß auf jeden Fall die reformierten Kirchen in Deutschland, nachdem sie aus der unierten Kirche ausgetreten sein werden, von diesem bischöflichen Regiment bewahrt bleiben würden“. Je mehr sich der „Reichsbischof“ Ludwig Müller als Werkzeug des NS-Staates zeigte, desto entschiedener wurde seine Ablehnung bei den Altreformierten (Abb. 3).

Als die HJ Ende Mai 1933 in Nordhorn zu einem Treffen aufrief, nahmen über 1000 Grafschafter Mitglieder daran teil. Der HJ-Gebietsführer Nordsee, Lühr Hogrefe, sagte laut „Zeitung und Anzeigeblatt“ vom 30. Mai 1933 deutlich, was die Zukunft bringen sollte: „Wir sind jetzt dem Ziel nicht mehr fern, wo es nur noch eine deutsche Jugendbewegung gibt, die Hitlerjugend. Die Zeit der Halbheit und Lauheit ist vorbei. Existenzberechtigung haben nunmehr nur noch die Hitlerjugendverbände“. 

Dies ließ bei den Altreformierten Ängste für die eigenen Jugendverbände aufkommen, zumal die bei ihnen streng eingehaltene Sonntagsheiligung von den NS-Verbänden immer weniger beachtet wurde. So häuften sich nun im „Grenzboten“ Artikel, die die Einhaltung der Sonntagsheiligung anmahnten, so in der Ausgabe vom 2. September 1933. Gegen die „Deutschen Christen“ fand das Blatt schon am 26. August kritische Worte.

Die Ablehnung des „jüdischen“ Alten Testaments und der Paulusbriefe durch die nationalsozialistischen „Deutschen Christen“, die unter den Altreformierten keinerlei Widerhall gefunden hatten, sorgten dann im Herbst für eine deutliche Klärung der Verhältnisse, da dieser Weg strikt abgelehnt wurde. So schrieb Pastor Kolthoff im „Grenzboten“ vom 9. Dezember 1933 gegen die „Agitation, die auf einem Gautag der Deutschen Christen einsetzte gegen das Alte Testament und selbst das Neue Testament ließ man nicht unangetastet“

Und gegen eine weitere Entwicklung im NS-Sinne in einigen protestantischen Landeskirchen trat er namens der Altreformierten entgegen: „Die Annahme des Arierparagraphen durch die preußischen und einige anderen Synoden traf uns und viele andere Christen wie ein schwerer Schlag. Es erschüttert uns tief, daß Prediger und Gemeindebeamte aus ihren Aemtern entfernt, Kirchenmitglieder ausgestoßen oder zu Christen zweiter Ordnung herabgesetzt werden, weil sie nach Geburt oder Herkunft Juden sind“.

Der staatliche Organe des Landkreises sahen daher in den Altreformierten unsichere Kantonisten und waren überzeugt, sie hätten sich im November 1933 der „Reichstagswahl“ und der „Volksabstimmung“ über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund entzogen, ungültig gewählt oder gar dagegen votiert. Der Uelser Oberlandjäger berichtete im Zuge politischer Ermittlungen gegen den altreformierten ehemaligen Wilsumer CSVD-Vorsitzenden dem Landrat in Bentheim im Dezember 1933: „In der früheren Partei des Volksdienstes waren in hiesiger Gegend nur Altreformierte, die auch bei der letzten Wahl mit „Nein“ stimmten. Die Altreformierten stehen mit den holländischen Reformierten in Verbindung und bekommen auch von Holland ihre Gesangbücher usw. geliefert. Es ist auch von Holland kurz vor der Wahl bei den Altreformierten gegen die letzte Wahl Propaganda gemacht worden, daher auch die vielen mit „Nein“ Stimmen“

Die Altreformierten gehen öffentlich auf Distanz

So hielt in der Schulchronik der reformierten Schule Laar der Lehrer Ende 1933 fest: „An der äußersten Westgrenze, weitab vom politischen Geschehen, ist unser Schulort durch die Revolutionswelle so gut wie gar nicht berührt worden. Nur ganz langsam macht sich auch hier bemerkbar, daß jetzt ein anderer Wind in Deutschland weht. Von einem großen Teil der Bevölkerung wird eine Tageszeitung nicht gehalten, Radiogeräte sind auch noch selten, und so dringt die Woge der Begeisterung nur ganz schwach bis hier durch. Politische Gleichgültigkeit und der Hang zum Althergebrachten tun ihr übriges. Nach und nach nimmt man Stellung für oder gegen den Nationalsozialismus. Dann aber entwickelt sich verhältnismäßig schnell und deutlich eine ablehnende Haltung bei einem Teil der Bevölkerung, besonders bei den Angehörigen der altreformierten Kirche. Grund: Man befürchtet Einengung und Unterdrückung der Kirche durch den Staat und Eingriffe in das Glaubensleben (Stellung zum Alten Testament, Rassenfrage, Sterilisationsgesetz!) … Die meisten Altreformierten lehnen den Hitlergruß ab (Vergötterung des Führers!) und erwidern ihn nicht“.

Wie im „Grenzboten“ vom 23. Dezember 1933 veröffentlichten Protokoll der Sitzung der altreformierten Synode zu lesen ist, beantragte daher die Gemeinde Wilsum mit Erfolg, dass in dieser angespannten Situation eine Bekenntnisschrift erstellt werden solle. Dazu trug bei, dass eine ostfriesische Gemeinde die zunehmende Entheiligung des Sonntags anprangerte. Die Synode beschloss darum, in Predigt, Unterricht und Hausbesuchen verstärkt auf die Sonntagsheiligung und Sonntagsruhe hinzuweisen, um das Gewissen der Glieder zu schärfen. 

Dies solle auch in der von Wilsum beantragten Bekenntnisschrift aufgenommen werden. So beschloss die Synode, zwei Pastoren mit der Abfassung einer Kundgebung in Sinne eines Weckrufes zu beauftragen (Abb. 4). Sie wurde Anfang 1934 veröffentlicht und zeigt die Distanzierung der Altreformierten von wichtigen Teilen der NS-Ideologie oder der Alltagspraxis der NS-Verbände.
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