Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Auswanderer02

Rieks Bouws

Meine ersten Jahre in Graafschap, Michigan, USA

Als im Jahre 1847 die Auswanderung nach Amerika mehr und mehr zunahm, fassten auch viele Grafschafter den Entschluss auszuwandern, um sich in der neuen Welt eine zweite Heimat zu suchen. Auch einige Bekannte und Verwandte von uns verließen in diesem Jahr ihr altes Vaterland. Zu ihnen gehörte mein Onkel Gerriet Bouws, ein unverheirateter Bruder meines Vaters. Nach langem Zögern verließ auch mein Vater die Grafschaft Bentheim, um die Reise in das unbekannte Amerika anzutreten. Vater war Witwer, er hatte zwei Söhne, meinen Bruder Jan und mich. Mein Name ist Rieks.
Gedenkstein vor der Kirche von Graafschap in Michigan, u. a. mit dem Namen Gerrit Bouws,
der Onkel des Rieks Bouws, der 1854 starb

Im Frühjahr 1848, am 12. April, verließen wir unsere alte Heimat und fuhren nach Bremerhaven. Schon am 16. April konnten wir unsere Reise in einem Segelschiff fortsetzen, mit dem wir am 6. Juni in Quebec, Kanada, landeten. Von Quebec aus brachte uns ein Stromboot über den St. Lawrence Strom nach Buffalo, dann weiter über den Erie See nach Detroit, von dort über den Michigan See nach Chicago.

Noch immer waren wir nicht am Ziel unserer Reise. Mit einem Segelschiff ging es weiter bis zur Mündung des Block Lake, an dessen Ufer Holland liegt. Jedoch gab es in diesem Binnensee viele Sandbänke und Dünen, so dass wir in ein flaches Ruderboot umsteigen mussten, das uns an das Ziel unserer weiten Reise bringen sollte. Doch ganz glatt ging unsere Fahrt nicht ab. Unser Ruderboot blieb zu oft stecken, bald musste es gezogen, bald geschoben werden.

Endlich legten wir nach mühevoller Reise am Landungssteg an, wir waren nach einem Vierteljahr in Holland, dem Ziel unserer Reise, am 1. Juli 1848 angelangt. Wir Jungen konnten den Augenblick nicht mehr erwarten, in die Stadt zu gehen und uns unsere neue Heimat anzusehen. Urwald, nur Urwald, soweit das Auge schaute, denn erst vor 14 Monaten waren hier die ersten Bäume gefällt worden, um Wege und Straßen anzulegen.

Hier und da sahen wir kleine Holzhäuser zwischen den Bäumen auftauchen. An einigen Häusern stand: Hier wird Kaffee gemahlen! Noch immer suchten wir die Stadt Holland, denn wir dachten an eine schöne Stadt mit breiten Straßen und großen Häusern. Endlich fragten wir Vater: „Wo ist eigentlich die Stadt?" - „Ich weiß nicht, ich weiß nicht, Jungens!" antwortete mein Vater.

Nach einiger Zeit trafen wir einen Bekannten — es wohnten schon mehrere Grafschafter hier —, den wir nach der Stadt fragten. Er lachte uns aus und sagte: „Ihr seid mitten drin, hier ist die Stadt Holland!" Grenzenlos war unsere Enttäuschung. Wir wollten nicht hier bleiben, wir verlangten, nach Graafschap zu unseren Verwandten gebracht zu werden. Am nächsten Tag brach unsere kleine Gesellschaft auf. Es hatten sich noch einige angeschlossen, die nach Zeeland wollten, das nördlich von Holland liegt.

Unser Weg führte in südwestlicher Richtung nach Graafschap. Mit einem wegkundigen Führer ging es durch den Urwald, der weder Steg noch Weg hatte. Nur unser treuer Führer kannte sich genau aus: Er richtete sich nach den Bäumen, die in gewissen Abständen gekennzeichnet waren. Diese Bäume dienen im Urwald als Wegweiser.

Auch die Indianer, die in diesem Gebiet wohnten, fanden so ihren Weg, aus diesem Grunde nennt man diese sogenannten Wege auch Indianertrail. Es war ein mühseliges Gehen. Zuerst wanderten wir über sandige, baumbestandene Hügel, dann durch moorige Niederungen, durch Bäche und über windgefällte Urwaldriesen ging es weiter, bis wir den Platz erreichten, an dem die Grafschafter gesiedelt hatten.

Aber o, wir wurden wieder enttäuscht, denn es war hier nicht viel besser als in Holland! Doch wir waren freudig überrascht, hier so viele bekannte Gesichter zu sehen. Auch unser Onkel Gerriet Bouws wohnte hier. Sehr einfach und anspruchslos waren die Hütten der Siedler gebaut, zum Teil wohnten sie sogar noch im Freien, unter einem Baum, nur mit einem Dach über dem Kopf, das aus gespaltetem Holz bestand und in der Trockenheit arg zusammenschrumpfte. Es bot kaum Schutz gegen den Regen, und es kam manchmal vor, dass Betten und Kleider durchnässt wurden.

Hier mussten wir nun mit den anderen Auswanderern hausen, doch wir Jungen passten uns schnell an, als wir unsere Verwandten sahen, die sehr hoffnungsvoll und zufrieden waren. Aber nun kam die große Frage, wo sollten wir 14-18jährigen Arbeit finden? Arbeiten mussten wir, das war uns allen klar, aber Bäume zu fällen war für uns viel zu schwer. Man sagte, dass einige Jungen und Mädchen bei Amerikanern Arbeit gefunden hätten in dem 100 Meilen entfernten Kalmetoo.

Gleich am nächsten Tag brachen wir nach Kalmetoo auf. Wir waren zu sechsen, 2 Mädchen und 4 Jungen. Unsere saubere Wäsche, die wir besaßen, hatten wir in einen Beutel gesteckt und über die Schulter geschlagen. Am ersten Tag wanderten wir 25 Meilen, bis wir das Dorf Allegan erreichten, in dem wir übernachten konnten. Wir wanderten weiter nach Kalmetoo. Nach etwa 30 Meilen trafen wir die ersten Amerikaner. Es tauchten immer neue Schwierigkeiten auf, keiner von uns verstand ihre Sprache. Zuerst konnten wir uns nur durch Zeichen verständigen.

Ich erhielt eine Anstellung bei Amerikanern. Nach einiger Zeit konnte ich schon einige englische Worte verstehen, und nach sechs Wochen waren die größten Schwierigkeiten überwunden. Groß war die Freude, wenn wir Freunde und Bekannte trafen, die hier auch Arbeit gefunden hatten. Ich diente sechs Monate bei diesen Leuten, die wirklich nett und freundlich zu mir waren. Nach dieser harten Schule kehrte ich wieder zu meinem Vater zurück.

Wie verändert fand ich Holland vor. Viele Bäume waren geschlagen, und schon einige Häuser besser aufgebaut. Nach fünf Wochen Ferien ging es mit frischem Mut wieder an die Arbeit. Nachdem ich mehr und mehr die Sprache des Landes beherrschte, suchte ich mir Arbeitsplätze, wo man sehr viel verdienen konnte. Ich habe im ganzen 5 Jahre bei Amerikanern gedient.

Nach diesen Dienstjahren kehrte ich nach Grafschap zurück. Hier hatte es sich inzwischen sehr verändert und verbessert. Die Eltern strebten danach, einen eigenen Hof zu erwerben, um ihn ihren Nachkommen zu vererben. Es waren schon einige schöne neue Höfe entstanden. Man begann Ochsen anzuschaffen, die als Zugtiere und zum Pflügen benutzt worden. Nun war das Schlimmste, dass Vater nicht mit den Ochsen umgehen konnte, denn sie hatten ihre Dressur auf amerikanisch gehabt und verstanden Vaters Befehle nicht, obgleich sie willig und anstellig waren. So entschloss ich mich denn, zu Hause zu bleiben und Vater zu unterstützen, die Ochsen zu leiten und Holz aus den Wäldern zu fahren.

Nun war die Zeit gekommen, die jüngeren Kinder in den Dienst zu den amerikanischen Familien zu schicken, denn es hatte sich als sehr nützlich erwiesen, die Sprache und Sitten des Landes kennen zu lernen. Viele Eltern hatten es ihren Kindern zu verdanken, dass sie in den Besitz von Vieh kamen, denn die Kinder waren sparsam und fleißig und konnten es so ihren Eltern ermöglichen, Vieh zu kaufen. Sie sahen es als Pflicht an, die Eltern, die sich sehr quälen mussten, mit Geld zu unterstützen.

Eltern und Kinder arbeiteten zusammen für ihren Aufbau und späteren Wohlstand. Nun war man einmal beim Bauen, und es ging alles nach Wunsch. Alle Häuser wurden ausgebessert, hier und da wurden neue dazu gebaut. Der Wohlstand nahm mehr und mehr zu. Wenn im Winter draußen auf den Feldern nicht soviel zu tun war, konnte man beim Holzfällen und Transportieren Geld verdienen.

Obschon sehr viel angebaut wurde und noch nebenher Geld herein kam, blieben die Siedler doch arm, denn sie mussten alles neu anschaffen. Sie bauten sich Schlitten und Pflüge, Eggen und Wagen. Wie hätten sie es sonst soweit bringen können, wenn nicht ihre Kinder geholfen und für den Wohlstand des Hauses mitgesorgt hätten? Damals hielt man den Spruch des weisen Spruchdichters Salomo: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang", noch höher als man es heute unter jungen Menschen tut.

Unsere Eltern lebten auch wirklich fromm. Bei all ihrer Arbeit hatten sie Gott vor Augen, und sie waren sehr für den häuslichen Gottesdienst. Das erfüllte uns jüngere Menschen mit Ehrfurcht und Liebe gegenüber unseren Eltern, die von Gott über uns gesetzt waren. Mit Dankbarkeit und Vergnügen erinnere ich mich gerne an die alten Tage der Vergangenheit.

Wenn ich dann denke, wie wir seit damals wirtschaftlich weiter gekommen sind und den jetzigen Wohlstand sehe, frage ich manchmal, sind wir auch im „Geistigen" so weiter gekommen wie im Wirtschaftlichen? Dann stehe ich beschämt da, und es ist mir, als ob Gott, unser Wohltäter, fragt. „Bist Du deinem Freunde gegenüber auch dankbar gewesen und hast Du ihm die Treue gehalten?"
Graafschap Michigan 1881

Nachschrift der Übersetzerin:
Im Jahre 1871 brannte der Urwald zum größten Teil ab; infolgedessen verbrannte auch Hab und Gut der Kolonisten, die von 1847 bis 1871 hier in diesem Gebiet gesiedelt hatten. Dieses schien zuerst ein großes Unglück, doch es erwies sich sehr bald als ein großer Segen: Der Brand entstand in der Nähe von Chicago, das etwa 60 Meilen südlich von Holland liegt. Südwinde peitschten die Flammen immer mehr nördlich in unser Gebiet, das damals gerade von einer Trockenheit heimgesucht war. Janna Diekjakobs besitzt ein holländisches Gedicht über diesen Brand, Frau Berrend Wolters geb. Speet dichtete es. Sie wird in einigen Monaten 90 Jahre alt und hat den Brand als junges Mädchen erlebt. Ihre Mutter war kurz, nachdem sie hierher kamen, gestorben. Frau Wolters erzählt uns oft aus der alten Zeit. Wolters sind unsere Nachbarn, sie stammen aus Itterbeck. Sie erzählte mir, dass ihr Vater als Soldat gegen Dänemark gekämpft hätte, dann hat er sicher unter den Hannoveranern gedient.

Von Rieks Bouws , übersetzt von Johanna Vos-Diekjakobs, Graafschap, Michigan, USA

Quelle: Bentheimer Heimatkalender 1952, herausgegeben von Heinrich Specht, S. 41 - 43
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