Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


JuNhs

Karl Heinz Meyer

Die jüdischen Familien in Neuenhaus und Uelsen

Im Jahr 1980 erschien eine Dokumentation über die Pogromnacht 1938 und das Schicksal der Juden in der Niedergrafschaft. Sie wurde von dem Neuenhauser Lehrer Karl-Heinz Meyer und einer Arbeitsgemeinschaft von Schülern der damaligen Kooperativen Gesamtschule Neuenhaus erarbeitet. Dieser Dokumentation sind die folgenden Texte entnommen:
In Neuenhaus erinnern nur noch die Namen auf einer Gedenktafel an die ermordeten jüdischen Mitbürger - Bild:AB
Familie van Covoerden  (Neuenhaus)

In Neuenhaus lebten die beiden Brüder Jonas und Julius van Coevorden. Jonas wohnte an der Nordhorner Straße und war Kurzwarenhändler. Zu bestimmten Zeiten verkaufte er auch Passahbrot an die Neuenhauser Bevölkerung.

Julius wohnte hinter dem Pferdestall der Gastwirtschaft Masselink. Er war mit Johanne van Coevorden, geb. Salomon, verheiratet. Ihr Kind Johanne wurde am 29.11.1907 geboren. Sie hatten eine Bäckerei und nebenbei betrieben sie einen Schrotthandel.

Julius van Coevorden gehörte, zusammen mit mehreren Handwerksmeistern, einer Runde von Kartenspielern an, die sich regelmäßig bei "Trotz" (Gastwirtschaft van Dyken) einfand. An Kirmestagen und gelegentlich am Wochenende spielte er mit seiner Handharmonika zum Tanz auf. Der Familie schien es nach der Pogromnacht ratsam, nach Holland auszuwandern. Sie meldete sich am 17.1.1939 in Neuenhaus nach Haaksbergen bei Almelo/NL ab.

Familie Frank  (Neuenhaus)

Julius Frank wohnte mit seiner Frau Selma und dem Sohn Günther zuerst in einem Haus in der Bahnhofstraße und dann in der Hauptstraße. Julius Frank war Viehhändler, die Familie war sehr arm. Er war Mitbegründer des Turnvereins (1907), eifriger aktiver Turner und von 1919 bis 1923 2. Vorsitzender.

Die Auseinandersetzungen um ein Theaterstück, das der Turnverein aufführen ließ und das belastet war mit antisemitischen Tendenzen, veranlassten Julius Frank, aus dem Verein auszutreten. Kurz vor der Pogromnacht am 09.11.1938 fuhr Julius Frank nach Amsterdam, um Verwandte zu besuchen.

In Holland erkrankte er und wurde in ein Amsterdamer Krankenhaus eingeliefert. Man kann nur noch ungenau sagen, wie es ihm ergangen ist, da er Angst hatte, nach Hause zu schreiben und dadurch eventuell seine Familie und sich selber zu verraten. Julius Frank wurde mit den holländischen Juden abtransportiert und gilt seither als verschollen. 

Der Sohn Günther litt sehr unter dem Verbot, dass "arische" Kinder nicht mehr mit den jüdischen spielen durften. Sein Großvater brachte ihn jeden Morgen zur Schule und holte ihn mittags ab, um ihn vor Mitschülern zu schützen. So saß er oft abseits auf einem Stein und weinte. Er trug damals schon den gelben Judenstern.

Nach seiner Schulzeit besuchte er mit 14 Jahren eine Gartenbaulehranstalt in Hannover. Selma Frank wurde durch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) versorgt, weil sie nicht mit finanzieller Unterstützung von ihrem Mann rechnen konnte. 

1942 wurden Frau und Sohn mit allen anderen Neuenhauser Juden gefangen genommen und im Juli 1942 ins KZ Theresienstadt abtransportiert. Julius Frank hatte noch einen Bruder Justus Frank, von dem nur bekannt ist, dass er zweimal verheiratet war, in Neuendorf gewohnt hat und dann verschollen ist. Die Tochter Irma wohnte nach dem Krieg in Milwaukee / USA und war verheiratet. Die Eltern von Julius und Justus waren Jakob und Julchen Frank. Die Familie Frank war voll in das gesellschaftliche und kulturelle Leben in Neuenhaus eingegliedert. 

Familie van der Reis  (Neuenhaus)

In Neuenhaus wohnten zwei Generationen der Familie van der Reis. Die van der Reis betrieben eine eigene Schlachterei, das Geschäft befand sich im Haus der älteren Generation. Einmal in der Woche ging der alte van der Reis durch die Niedergrafschaft und verkaufte Fleisch. 

Julius und Sophie van der Reis wohnten an der Hauptstraße 55. Er war von Beruf Metzger. Sie besaßen einige Grundstücke und 2 Häuser. Sie gehörten mit der Familie Süskind die reicheren Juden in Neuenhaus. Sie besaßen eine größere Antiquitätensammlung mit alten Schusswaffen aus dem Mittelalter, Krügen und Urnen. Ihre beiden Söhne, Victor und Hans besuchten eine höhere Schule in Emden. Diese Familie war fast 100 Jahre in Neuenhaus ansässig. 

Julius' 1. Frau Sophie starb eines natürlichen Todes 1942. Auf Grund ihrer Abstammung wollte sie niemand beerdigen. Mit einem Möbelwagen brachte man sie schließlich zum Judenfriedhof. Adolf, Bertha, Georg und Adele wurden deportiert ins KZ Theresienstadt. 

Victor van der Reis war Professor der Medizin in Greifswald. Er kam nach Danzig, wo er seinen Beruf als Arzt weiterführen durfte. Schließlich kam er nach Winterswijk in Haft. Weil seine Frau als Katholikin sehr gute Beziehungen besaß, konnte er nach Brasilien (Sao Paulo) auswandern. Nach dem Krieg kam er zurück nach Deutschland (Schwarzwald) und verstarb dort. 

Friedchen van der Reis heiratete in Rheine einen Herrn Dessauer. Sie kam nach Polen und wurde dort im Straßenbau eingesetzt. Als ihr beide Beine abfroren, wurde sie wegen Arbeitsunfähigkeit gegen Ende des Krieges erschossen. Hans van der Reis hatte eine hohe Stellung in einer großen Hamburger Firma. 1936 wurde ihm nahe gelegt, wegen seiner Abstammung die Stellung aufzugeben und auszuwandern. 1 1/2 Jahre führte er dann seinen Nachfolger ein und zog dann nach Südafrika mit seiner Frau, die aus Hamburg stammte. Im Oktober 1978 verstarb er mit 84 Jahren. Sein Sohn Günter wurde ein berühmter Maler in Südafrika. Sein Sohn Dirk betrieb dort ein Lederwarengeschäft.

Familie Salomon  (Neuenhaus)

Die Metzger-Familie Salomons wohnten in dem jetzigen Haus Hauptstraße 127. Die Familie flüchtete nach der Demolierung ihrer Wohnung in der Pogromnacht am 17.01.1939 nach Almelo/NL. Die älteste Tochter Grietje hatte sich 1923 aus Liebeskummer in der Dinkel ertränkt. 
Der Sohn David arbeitete in einer Bank in Gronau. Er wanderte in die USA aus und lebte später in Göteborg/Schweden. Die Tochter Helene lebte nach dem Krieg in Utrecht/NL. Sie hatte bereits vor der Flucht der Familie in die Niederlande als Krankenschwester in einem jüdischen Krankenhaus in den Niederlanden gearbeitet. Sie hat die Besetzung der Niederlande durch die Deutschen überlebt.

Familie Süskind  (Neuenhaus)

Die Familie Samson Süskind war 1880 nach der Eheschließung zugezogen und wohnte an der heutigen Veldhauser Straße. Samson Süskind betrieb einen Schrotthandel. Der Schrottplatz befand sich an der Ecke Veldhausener Straße und Morsstraße. 

Die Süskinds schienen reich, sie besaßen eine Sammlung antiker Gegenstände und Delfter Porzellan. Zu der Zeit, als die Judenverfolgung im Dritten Reich schon betrieben wurde, beschuldigte ein Neuenhauser Bürger Siegmund Süskind, eine deutsche Frau "geschändet" zu haben.

Dieser wurde daraufhin mit einem Bus nach Nordhorn gebracht; er musste dort mit einem Schild, auf dem stand "Ich bin der Jude Süskind und wollte eine deutsche Frau schänden", durch die Straßen gehen. Bevor er in den Bus gezerrt wurde, rief ihm seine Frau zu: "Du bist von Hindenburg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden, das können sie Dir doch nicht antun!"

Der einzige Überlebende der Familie Süskind war der Sohn Siegfried, der sein Leben dadurch gerettet hat, dass er beim Abtransport vom Waggon sprang; dabei wollte er auch seine Schwester mitziehen, was ihm jedoch misslang. Nach dem Krieg lebte er wieder in Nordhorn und betrieb einen Schrotthandel. 

Samson Süskind flüchtete am 14.06.1939 nach Assen/Holland. Kurze Zeit später kam er wieder nach Neuenhaus zurück und wurde später mit anderen Grafschafter Juden deportiert. Siegmund Süskind und seine Ehefrau Julchen flohen ebenfalls nach Holland, wo sie verhaftet wurden und ins KZ Westenberg/Holland eingeliefert wurden. 

Siegmund Süskind war am 25.01.44 im KZ Auschwitz. Julius Süskind seine Ehefrau Emilie und die Tochter Rosette Julie wurden 1945 in Neuenhaus für tot erklärt. Der Sohn Siegfried wohnte nach dem Krieg in Frankfurt a. Main.

Familie Steinburg  (Neuenhaus)

Die Familie Steinburg, die keine Kinder hatte, betrieb ein Konfektionsgeschäft. Dieses Geschäft war wegen seiner guten Ware in der ganzen Niedergrafschaft bekannt, ist aber in der Pogromnacht von den Nazis völlig zerstört worden. Die Familie besaß auch noch einen Garten. 

Vor dem Abtransport kam Herr Steinburg zu einer Neuenhauser Bürgerin und wollte ihr sein Hab und Gut verschenken. Diese Bürgerin hatte jedoch Angst, das Geschenk anzunehmen, weil es in Neuenhaus auch viele überzeugte Nazis gab, und es war verboten, etwas von den Juden anzunehmen. Die Wertsachen der Juden sind schließlich in einem Schuppen verstaut worden. Was dann damit geschah, weiß man nicht. 

Die Familie Steinburg bewohnte in Neuenhaus nacheinander drei Wohnungen: Hauptstraße 62, Bahnhofstraße 30, Hauptstraße 55. Beide Eheleute wurden 1942 mit anderen Juden aus Neuenhaus, Uelsen und Emlichheim in 2 Häusern in Neuenhaus gefangen gehalten und später abtransportiert. Über das weitere Schicksal der Familie ist nichts bekannt geworden.

Familie Vorsanger  (Uelsen)

Josef Vorsanger wurde in der Pogromnacht 1938 verhaftet. Er wurde nach 4-5 Wochen aus dem KZ Oranienburg entlassen. Danach verkaufte er sein Haus. Die Familie verzog nach Almelo/NL. Seit etwa 1942 hat man von dem Sohn Hans nichts wieder gehört. Die Eltern sind 1943/44 in Polen ermordet worden. 

Josef Vorsanger erlernte das Schneiderhandwerk bei der Fa. Wersmann in Uelsen. Er hatte etwa 1911 geheiratet und sich selbständig gemacht. Er besaß ein Schneidergeschäft, kaufte das Grundstück von der Firma Wersmann und baute das Haus selbst. Der einzige Sohn Johannes arbeitete im elterlichen Betrieb. Er war kränklich und oft im Krankenhaus. In Almelo arbeitete er in einem Gemüseladen. Dort tauchte er unter, wurde aber von niederländischen NSB-Leuten aufgestöbert. 

Josef Vorsanger war im 1. Weltkrieg Kriegsfreiwilliger. Er kehrte als letzter Uelsener Kriegsteilnehmer aus der Gefangenschaft zurück. Er war mit dem EK 1 ausgezeichnet worden. Die Familie Vorsanger war bei der Uelsener Bevölkerung sehr anerkannt. 

Familie Vos  (Uelsen)

Salomon Vos kam von Jerusalem über die Türkei nach Uelsen und wollte sich von Amsterdam/Rotterdam (?) nach Amerika einschiffen lassen. Der Uelsener Pastor überredete ihn, hier zu bleiben mit den Worten: "Das Brot ist hier genauso gut wie dort." Er mietete dem Salomon eine Kammer bei Storteboom. 

Dann holte Salomon seine Frau Rebekka (oder Emma) geb. Driels zu sich. Sie wohnten danach bei Jakobs. Salomon Vos war Viehhändler, Schlachter und besaß einen Kalk-und Kohlehandel. 

Der Sohn Hermann Vos lernte seine Frau Johanna kennen, beide wohnten in Uelsen. Sie besaßen noch einen Garten etwa dort, wo das jetzige Realschulzentrum in Uelsen steht. Hermann Vos hatte sich im 1. Weltkrieg das EK I erworben und war Kommandeur und Präsident des Uelsener Bürgerschützenvereins. 

Am 08. / 09.11.1938 wurde er verhaftet, aber nach einigen Wochen wieder entlassen. Am 30.01.1942 kamen einige Männer und boten der Familie Vos eine "günstige Gelegenheit" zu fliehen. Sie wurden zu einem Wagen geführt und sind dann in Uelsen nie wieder gesehen worden.

In Neuenhaus wurden sie zusammen mit allen in Neuenhaus lebenden Juden in das Haus der Familie van der Reis eingewiesen. Sie lebten dort in qualvoller Enge bis zum Abtransport am 28. Juli 1942 ins KZ Theresienstadt. 

Ihr einziger Sohn Salomon, genannt Sally, besuchte die Rektorschule in Neuenhaus und Bentheim, danach machte er eine Lehre in der Eisenverwertung in Frankfurt (1921-24), daraufhin war er bis 1933 Organisationsleiter der Volksfürsorge. Bis 1938 arbeitete er in einer Wachsschmelze in Hannover. Im Jahre 1938 erfolgte sein Abtransport in das KZ Buchenwald, wo er bis Januar 1939 blieb. 

Danach verließ er in Uelsen seine Frau und seine beiden Kinder, um sie vor den Verfolgungen zu schützen, denn seine Frau war keine Jüdin. Er wanderte über Holland nach Belgien aus, wo er beim Einzug der deutschen Truppen als Bauernknecht und Bergmann untertauchte. Belgien war die einzige Fluchtmöglichkeit, weil die Königin von Belgien, Elisabeth, Prinzessin von Coburg-Gotha, sich bei der Polizei ihres Landes für die Juden einsetzte. 

In Belgien schlitterte er nach kurzer Zeit in eine Wehrmachtsstreife, deren Führer ein Belgier war. Anfangs versuchte er noch, durch Gebrauch der französischen Sprache sich herauszureden; dennoch wurde er für einen untergetauchten Widerständler gehalten. Er musste der Streife zu seinem Wohnsitz folgen, wo der belgische Patrouillenführer nach Papieren suchen wollte. Sally setzte alles auf eine Karte und sprach dessen drei deutsche Begleitsoldaten an. Er erzählte ihnen, dass er seinen Urlaub in Belgien verbringe. Die Soldaten, die keine Nazis waren, überredeten ihren belgischen Patrouillenführer, Sally laufen zu lassen.

1943 wurde er in Belgien von der Gestapo festgenommen. Kurze Zeit wurde er als Dolmetscher gebraucht, doch dann kam er für mehrere Tage in den Gestapokeller und von dort ins KZ Mechelen. Seine Identitätskarte wurde ihm im KZ von Widerstandskämpfern abgenommen und verschwand. 

Ende 1943 schrieb er an seine deutsche Frau, von der er zu diesem Zeitpunkt bereits geschieden war. Sie schickte ihm die notwendigen Papiere, mit denen er nachweisen konnte, mit einer "Arierin" verheiratet zu sein, was jüdische Deutsche vor dem KZ schützte. Er wurde daraufhin nach 9 Wochen KZ-Haft entlassen, da Mischehen geschützt wurden, er hat aus dieser Ehe 2 Kinder. 

1955 heiratete Sally Vos Evelyne de Wimme. Er wohnte danach in Waterloo (Belgien). 1967 bekam er Besuch von 36 Personen aus Uelsen. Georg Hesselink war der Initiator. Auch Sally Vos besuchte fast jedes Jahr einmal die Uelser Bürger und hielt so die Verbindung mit alten Freunden aufrecht.

Quellen: Dokumentation "Reichskristallnacht 1938 - Die Juden in der Niedergrafschaft". Sie wurde von Karl Heinz Meyer und einer Schülergruppe der KGS Neuenhaus im Januar 1980 erstellt.

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