Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Niederlande

Helmut Lensing

Die Grafschaft Bentheim und der Überfall auf die Niederlande 1940

Im öffentlichen Bewusstsein der Bevölkerung der Grafschaft ist vom Kampfgeschehen am Ende des Zweiten Weltkrieges komplett überlagert worden, dass das Bentheimer Land bereits fünf Jahre zuvor Kriegsschauplatz gewesen war.

Mit dem Angriff auf Polen entfachte der Diktator Adolf Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg, mit dem er seine rassenideologischen Ziele – Eroberung von „Lebensraum“ im Osten und die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung – verwirklichen wollte. Briten und Franzosen kamen ihren vertraglichen Beistandsverpflichtungen gegenüber Polen nach und erklärten dem Reich den Krieg.
Deutsche Truppen in Lage kurz vor dem Grenzübertritt am 10. Mai 1940 - Digitales Archiv Lage
Jedoch waren sie auf eine militärische Auseinandersetzung mit einer hochgerüsteten aggressiven Macht wie dem „Großdeutschen Reich“ nicht vorbereitet, so dass es an der Westfront auch nach der Besetzung Polens durch das Reich und die Sowjetunion weitgehend ruhig blieb. Allerdings liefen auf deutscher Seite bereits Planungen an, auch im Westen den Krieg offensiv zu führen, also die Niederlande, Belgien und Luxemburg zu besetzen und Frankreich anzugreifen. Nicht zuletzt sollte durch die Einnahme der Benelux-Staaten die eigene strategische Lage gegenüber den beiden Westalliierten verbessert werden.

Ein bereits für November 1939 vorgesehener Angriffstermin wurde mehrfach wegen unzureichenden Vorbereitungen verschoben. Nach der Besetzung Polens war der Krieg äußerlich in eine Phase relativer Ruhe übergegangen. Obwohl bereits Vorbereitungen für einen Angriff auf die westlichen Nachbarn liefen, erhielt schließlich aus strategischen Gründen die Eroberung von Dänemark und Norwegen Vorrang.

Am 9. April 1940 startete der deutsche Angriff im Norden. Dänemark wurde innerhalb eines Tages besetzt; um Norwegen wurde mit britischen Truppen, die dort gleichfalls landen wollten und einige Stunden zu spät kamen, heftig gekämpft. Nach wenigen Tagen gewannen die Deutschen, die die wichtigsten Häfen im Handstreich nehmen konnten, die Oberhand.

Daher konnten nun die Pläne für einen Angriff im Westen vorangetrieben werden. Frankreich war der Hauptgegner, doch weil Hitler die Benelux-Staaten unter anderem als zu schwach einschätzte, um ihre Neutralität gegenüber den Ansprüchen Großbritanniens und Frankreichs tatsächlich auch wahren zu können, wurden nun die Angriffsvorbereitungen forciert.

Entlang der niederländischen Grenze war auf deutscher Seite das Armeeoberkommando 18, auch 18. Armee genannt, aufgestellt worden. Im nördlichen Münsterland und an der hannoverschen Grenze zu den Niederlanden befanden sich Einheiten ihres X. Armee-Korps. Deren Verbände im Emsland und in der Grafschaft Bentheim hatten die Aufgabe, beim Angriffsbefehl Richtung Meppel, Assen und Groningen zu marschieren, um dann flächendeckend den Raum bis zum Ijsselmeer zu besetzen.

Am frühen Morgen des 10. Mai 1940 begann schließlich der deutsche Angriff auf die Benelux-Staaten. Begründet wurde er mit der einseitigen Begünstigung der deutschen Kriegsgegner durch die drei Staaten, so dass deren Neutralität wieder hergestellt werden müsse. Sie sei von den Briten mit ihrer Luftwaffe stets widerstandslos missachtet worden. Nach schweren Kämpfen erreichte die 18. Armee schon am ersten Tag das Ijsselmeer und am 12. Mai die Küste. Nachdem auch Rotterdam erobert und zerstört worden war, verkündete der Rundfunk am 14. Mai 1940 um 20.30 Uhr die Kapitulation der Niederlande. Die Königsfamilie hatte bereits am 13. Mai das Land verlassen. Es begann nun die deutsche Besatzungszeit.

Die Kriegsvorbereitungen in der Grafschaft Bentheim

Nachdem zunächst Truppenverbände, die am Angriff auf Polen teilgenommen hatten, angebliche „Ruhestellungen“ im Emsland bezogen hatten, kamen Anfang 1940 auch Verbände der Wehrmacht in die Grafschaft Bentheim.

Der Schulchronik Scheerhorn aus der Niedergrafschaft ist zu entnehmen: Im Febr. 1940 kommt dann plötzlich viel Leben und Betrieb in die Ortsgruppe und auch nach Scheerhorn und Berge, als eine Schwadron Kavallerie hier einquartiert wird. Fast jedes Haus hat „seinen“ oder „seine“ Soldaten u. ihre Pferde. …. Jung und Alt nahmen natürlich an dem Leben u. Treiben der Soldaten regsten Anteil.

In der Chronik des unweit gelegenen Esche hielt Lehrer Lambert Lahmann fest: Am 13. Febr. 1940 war ganz Esche auf den Beinen, es bekam Einquartierung. Die Munitionskolonne des 8. Art.-Regt. mußte hier untergebracht werden. Alle waren begeistert, jeder wollte einen Soldaten beherbergen. So mußten viele Wünsche unberücksichtigt bleiben.

Ganz besonderes Interesse für das Soldatenleben bekundete auch hier unsere Jugend. Bei den militärischen Übungen auf dem Schulplatze war sie meistens vollzählig als Zuschauer vertreten. Auch unsere Feldgrauen lebten sich hier bald ein und fühlten sich wohl. Und so ist ganz erklärlich, daß der Abschied am 10. Mai, als der Waffengang im Westen seinen Anfang nahm, auf beiden Seiten schwer fiel.

Der Lehrer Heinrich Kip hinterließ in der Schulchronik des Grenzdorfes Lage folgende Notizen: Im Laufe des Monats März bekam die Gemeinde Einquartierung und zwar Mann und Pferde. Die Unterbringung der Pferde machte einige Schwierigkeiten, da auf der Neustadt und in Brecklenkamp wegen der Nähe der holländischen Grenze keine gestallt werden durften. Die Soldaten wurden liebevoll aufgenommen und betreut. Nach ihrem Abzug zeugte noch mancher Brief von dem herzlichen Einvernehmen zwischen den Soldaten und der Lager Bevölkerung.

Der Überfall auf die Niederlande

Die in die Grafschaft verlegten Truppen verbrachten ihre Zeit mit Übungen, die sie auf den Überfall, vor allem auf die rasche Eroberung von Brücken bzw. die schnelle Überquerung von Wasserwegen, vorbereiten sollten.

Lehrer Heinrich Kip schrieb in die Schulchronik von Lage über die Tage des Überfalls auf die Niederlande: Als nach der Besetzung Norwegens … der Krieg im Westen seinen Anfang nahm und unsere Truppen am 10. Mai in Holland einrückten, verließ auch „unsere Einquartierung“ unsern Ort. … In der Frühe des 10. Mai brauste eine große Anzahl Flugzeuge (mindestens 100) über unser Dorf in Richtung Holland. Bis zum Mittag hörten wir dann immer wieder Detonationen von Brückensprengungen und sich immer mehr entfernenden Geschützdonner. Als nach dem nach 5 Tagen beendigten Feldzug gegen Holland auch die hier einquartiert gewesenen Soldaten für einen Tag nach hier zurückkamen, war die Freude der Bevölkerung groß.

Für die Soldaten in Brecklenkamp wurde in den Tagen vor dem Einmarsch der "Soldatenpott" gekocht - Digitales Archiv Lage
Im wenige Kilometer entfernten Halle notierte der Lehrer: Am 10. Mai begann der Einmarsch nach Holland und Belgien. Die militärischen Maßnahmen gegen Holland berührten auch unsere Heimat unmittelbar. Am 7. Mai erschienen bei dem Unterzeichneten (Der Bürgermeister war nicht anwesend!) zwei Offiziere, um Auskünfte über Einquartierungsmöglichkeiten in der Gemeinde Halle zu erhalten.

Es wurde dann mitgeteilt, daß in den Gemeinden Halle und Hardingen zusammen in den nächsten Tagen 200 Mann und 250 Pferde einquartiert werden würden. Bereits am folgenden Tag erschienen die Quartiermacher. Am Nachmittag des 9. Mai rückten die Truppen, von Neuenhaus kommend, hier ein. Sie bezogen jedoch nicht ihre Quartiere, sondern marschierten weiter und übernachteten im Walde bei Nordbeck. In den frühen Morgenstunden des 10. Mai brachen sie auf und rückten über Uelsen in Richtung Itterbeck ab.

Am Morgen des 10. Mai erfüllte Motorengebrumm die Luft. Flieger brausten dahin. Heftige Detonationen, verursacht durch Brückensprengungen in Holland, brachten die Fensterscheiben zum Klirren. Nach und nach wurde es ruhiger, die Explosionen waren kaum noch zu hören, nur Flieger sah und hörte man. An einem Nachmittag brausten in geringer Höhe 52 Maschinen vorbei. Ein herrlicher Anblick! In weniger als 6 Wochen wurden Holland, Belgien und Frankreich entscheidend geschlagen.


In Alexisdorf, heute ein Teil von Neugnadenfeld und damals Ort eines der Emslandlager, schrieb der dortige Schulmeister: Am 9. Mai 1940 wurde die Kavallerie, die in den Orten der Grafschaft lag, also auch in Groß- und Klein-Ringe, alarmiert. In der Nacht zum 10. Mai überschritt sie die Grenze nach Holland. Am Morgen wurden die Bewohner dieser Gegend aufgeweckt von dem Kanonendonner, den Detonationen der Sprengungen und dem Gebrumm der deutschen Flugzeuge, die nach Holland Fallschirmschützen und andere Soldaten und auch Bomben brachten.

Auf der Straße nach Schoonebeck wurden große Kolonnen deutscher Soldaten beobachtet. … Alles fieberte, Meinungen gingen hin und her, da von hier verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen nach jenseits der Grenze bestehen. Die hier wohnenden Holländer mußten sich melden und wurden unter Aufsicht gestellt. Ihren Paß mußten sie abgeben. Verdächtige wurden interniert und nach Nürnberg gebracht. …

In den Gefangenenlagern tauchten gefangene Holländer auf. Bald setzte ein ununterbrochener Zug von Gefangenen ein: Belgier, Engländer, Franzosen, Neger usw. Das war ein Kommen und Gehen, da die Lager Bathorn und Alexisdorf Durchgangslager waren. Das Lager beherbergte zeitweise 2000 – 3000 Gefangene, die in den Baracken und schnell errichteten Zelten untergebracht wurden. Die Kinder sammelten fremde Stahlhelme und was es sonst noch gab.

Aus Getelo, direkt an der Grenze, berichtete der Lehrer: Der Einmarsch in Holland brachte dem Dorf einige ereignisreiche Tage. In den Nachbarorten Uelsen und Itterbeck lagen schon seit längerer Zeit Kavallerie-Abteilungen. Am 9. Mai 1940 erschienen vormittags Quartiermacher im Dorf. Fast jedes Haus sollte eine größere Anzahl von Mannschaften und Pferden aufnehmen; die Schule wurde beschlagnahmt. Am Nachmittag rückte eine größere berittene Artillerie-Abteilung ein – für unsere Jugend, aber auch für viele Erwachsene ein nie geahntes Bild.

Doch sollte die Freude nicht lange dauern; denn die Quartiere wurden nicht bezogen, Geschütze und Wagen wurden gegen Fliegersicht getarnt und aufgestellt und die Pferde draußen angeseilt. Schon um 1 Uhr nachts stand die Batterie wieder marschbereit, überschritt aber nicht in Getelo die Grenze, sondern marschierte nach Norden zur Itterbecker Straße, über die der Einmarsch nach Holland erfolgte. Während der Nachtstunden hörte man im Dorf das ferne Rollen der vielen meist motorisierten Einheiten.

Und unvergeßlich werden jedem die Stunden sein, in der das Donnern der Motoren anzeigte, daß ungezählte deutsche Luftwaffengeschwader ihren Weg nach Westen zogen. Am frühen Morgen des 10. Mai wurden die Bewohner durch einige Kanonenschüsse – beim Zollamt Vennebrügge auf eine holländische Einheit abgefeuert – unsanft aus dem Schlaf gerissen. Dann hörte man noch bis gegen 10 Uhr die Detonationen der vielen Brückensprengungen in Holland, und bald lag wieder die Stille des sonnigen Maientages über dem Dorf.


Über die Vorgänge im Grenzabschnitt im Norden der Niedergrafschaft informiert die Schulchronik der Schule von Laar: Starken Eindruck macht der Einmarsch der deutschen Truppen in Holland in den Morgenstunden des 10. Mai 1940. Eine gewisse Spannung durchlief die Bevölkerung schon am 9. Mai, als man vernahm, daß sämtliche hier in der Umgegend liegenden Truppen Alarm hatten. In den ersten Morgenstunden, etwa 3 Uhr, erwachten viel Bewohner des Dorfes durch das dauernde Getrappel der Pferde der durchziehenden Kavallerie. Als der Morgen graute, fielen auf deutscher Seite ein paar Kanonenschüsse, die das Signal gaben zum Einmarsch.

Alles war auf den Beinen. Kinder, die Gefahr nicht bedenkend, bringen unsere Soldaten an bzw. über die Grenze. Schon bald setzen die gewaltigen Brückensprengungen ein, die Fenster im Dorf zittern. Fliegertätigkeit ist sehr rege. Nur wenig wird unser Dorf von dieser Kriegshandlung gewahr.

Man hört kaum das Tacken der M.G. in den Vormittagsstunden, brachte man einige Verwundete ins Dorf, die bald darauf nach Nordhorn abbefördert wurden. … Schon am 19. Mai kommen die Truppen nach Erledigung ihrer Aufgabe in Holland nach Laar zurück.


In der Bentheimer Schulchronik hielt der dortige Schulleiter zu diesen Tagen fest: Kurz vor Ostern bekam Bentheim die erste Einquartierung, eine Kompanie der Leibstandarte Adolf Hitler. Sie blieb bis zum 10. Mai, dem Tage, an dem der Angriff im Westen begann. Seit den frühen Morgenstunden zogen an diesem Tage ununterbrochen Truppen, größtenteils motorisiert, durch die Straßen Bentheims gen Westen nach Holland hinein. Der Unterricht fiel deshalb zur größten Freude der Kinder an diesem letzten Tage vor den Pfingstferien aus.

Um 8 Uhr gab Reichsminister Dr. Goebbels im Rundfunk eine Erklärung der Reichsregierung zu dem Vorgehen im Westen, die auch von den auf den Straßen Bentheims haltenden Soldaten mit angehört wurde. Die Bevölkerung Bentheims stand an den Straßen, jubelte den Soldaten zu, reichte ihnen Erfrischungen und schmückte sie und ihre Fahrzeuge mit Blumen. Kurz nach 8 Uhr wurden schon die ersten holländischen Gefangenen aufs Schloß gebracht. Nach 6 Wochen waren Holland, Belgien und Frankreich von unserer tapferen Wehrmacht überrannt und besiegt. Am 21. Juni wurden im Wald von Compiègne die Waffenstillstandsbedingungen übergeben, die 2 Tage später unterzeichnet wurden und am Morgen des 25. Juni in Kraft traten.
Rückkehr deutscher Soldaten im Mai 1940 - Schulchronik Dörgen
zurück
Share by: