Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Textilindustrie

Helmut Lensing

Die Anfänge der Textilindustrie im Bentheimer Land

Um 1800 lebten in der Grafschaft Bentheim knapp 23.000 Menschen, gegen 1840 waren es ungefähr 30.000. Damit gehörte das Bentheimer Land zu den dünnbesiedelsten Gebieten Deutschlands.

Das lag vor allem daran, dass rund 80 Prozent des Gebietes Ödland war, hauptsächlich Heide und Moor. Die Landwirtschaft war hier ein mühseliges Geschäft. Die Hauptanbauprodukte Roggen und Buchweizen brachten lediglich geringe Erträge, die Einwohner ernährten sich kärglich. Daher waren große Teile der Bevölkerung auf Zuverdienst wie den Hollandgang oder mehr noch auf die Einnahmen angewiesen, die ihnen durchziehende Hollandgängern ermöglichten.
Flachsbearbeitung auf dem Hof Hoppen in Osterwald. - Bild: Archiv Heimatfreunde Emlichheim
Besonders große Not litten die Heuerleute, die von den Bauern etwas kargen Boden zur Bearbeitung und einen primitiven Kotten gegen fast uneingeschränkte Arbeitshilfe auf dem Hof gepachtet hatten. 1789 gab es so etwa im Kirchspiel Nordhorn 231 Heuerlingsstellen und im Kirchspiel Schüttorf 134.

Ein wichtiger Nebenverdienst der Heuerleute wie der Kleinbauern war die sehr arbeitsintensive Herstellung von Leinen aus Flachs und teilweise auch aus Hanf. Flachs gedieh auch in der Grafschaft, vor allem in der Obergrafschaft und der nördlichen Niedergrafschaft, und Leinen war als Bekleidungsstoff und auch als Segeltuch im In- wie Ausland gefragt.

Während also Heuerleute und Kleinbauern Leinen in Heimarbeit herstellten – schon lange Jahrzehnte zuvor hauptsächlich für den Eigen- oder lokalen Bedarf –, verkauften zunehmend Wanderhändler wie die Tödden aus dem südlichen Emsland und dem Münsterland den Überschuss in die Niederlande oder in andere Staaten. Etliche der vielen Arbeitsstufen zur Flachsherstellung wurden von Kindern erledigt. So waren etwa 1832 viele Obergrafschafter Mädchen schon unter zehn Jahren mit dem Spinnen von Garnen beschäftigt, wobei insbesondere in der ansonsten arbeitsfreieren Winterzeit auch die Frauen damit stark eingespannt waren. Die Garne wurden dann zu Leinen gewoben. Bald wurde der ursprünglich weiße Leinenstoff auch gefärbt, so dass im Bentheimer Land einige Färbereien entstanden.

Um 1825 gab es in der Grafschaft 829 haupt- und nebenberufliche Leinenweber. Das fertige Leinen wurde zum einen in die Niederlande geschmuggelt, da die Zollgrenze nach dem Wiener Kongress durch das Königreich Hannover deutlich stärker kontrolliert wurde, zum anderen gab es Leinenkaufleute, die den Hauswebern ihre Produkte abnahm und für einen Weiterverkauf sorgten. Beispielsweise zählten die Behörden 1808 in Schüttorf fünf Leinenhändler, in Ohne drei, in Bentheim zwei, in Gildehaus drei, in Nordhorn drei (und noch 14 Garnhändler) und in Neuenhaus, das die Niedergrafschaft erfasste, ganze 16 (Schwabe S. 42).

Es bildete sich in der Region mit dem Aufschwung des Leinenhandels das Verlagssystem heraus. Das bedeutete, dass ein Textilkaufmann den armen Heuerleuten und Kleinbauern den Rohstoff auslegte (= vorstreckte), manchmal auch den Webstuhl zur Verfügung stellte. Dafür war er einziger Abnehmer der fertigen Leinen. Dafür zahlte er dann einen vorher vereinbarten Lohn je nach Menge und Qualität. Die Weber erhielten in der Regel nicht Bargeld, sondern meist den Lohn in Form von Lebensmitteln oder anderen Naturalien ausgezahlt.

Damit waren die Weber stark vom jeweiligen Verleger abhängig, in Notzeiten sogar vielfach bei ihm verschuldet. So war bald die ganze Familie in den Arbeitsprozess eingebunden. Viele Familienmitglieder beherrschten mehrere Arbeitsschritte des Herstellungsprozesses, so dass die Flachsbearbeitung und Leinenherstellung je nach dem Anfall von Arbeit auf dem Kleinbauern- oder Heuerlingshof „nach wechselnden Nützlichkeitsgesichtspunkten oder Bedürfnissen insgesamt oder in den jeweiligen Produktionsstufen auf einzelne Familienmitglieder verteilt werden“ konnte (Schwabe S. 43).

Schüttorf bildete das Zentrum der Grafschafter Leinenproduktion. 1833 standen hier 70 der 836 Grafschafter Leinenwebstühle. Da hier überwiegend hauptberuflich produziert wurde, war ihre Jahresleistung mit 75.000 Ellen sehr hoch, verglichen mit den 173.980 Ellen, die die 645 Webstühle in der Niedergrafschafter außerhalb von Neuenhaus produzierten. In der Niedergrafschaft produzierte man mehrheitlich nebenberuflich Leinen (Butke S. 19).

Die Verlegerfamilien in der Obergrafschaft entstammten den Kaufmanns- und Ratsfamilien der Städte, so in Schüttorf etwa den Familien Rost, te Gempt oder ten Wolde. In Nordhorn und der nördlichen Grafschaft lag der Verlagshandel hauptsächlich in den Händen eingewanderter niederländischer Mennoniten, da die Niederländer die größten Abnehmer der Grafschafter Leinen waren. Weil die Grafschaft ein „Niedriglohnland“ (Schwabe S. 46) war, waren die Gewinnspannen für die Händler in normalen Zeiten recht hoch. So tauchen die Namen etlicher dieser Verlegerfamilie später als die Gründer von Textilfabriken auf, als sich in der Bekleidungsindustrie ein Übergang von Leinen zu Baumwolle anbahnte, was ganz andere Produktionsmethoden zur Folge hatte.

Die Einfuhr von billigen Stoffen aus britischer Produktion ließ die Preise fallen, nur kurz ab 1830 unterbrochen, als sich Belgien von den Niederlanden trennte und damit zunächst die flämische Konkurrenz vom niederländischen Markt verschwand. Doch führte dies zugleich zu einem Einstehen einer niederländischen Textilproduktion in unmittelbarer Nachbarschaft zur Grafschaft. Solange aber Baumwolle noch schwer zu beschaffen und zu bearbeiten war, gaben die Leinenherstellung und der Leinenhandel weiterhin – tendenziell sinkenden – Lohn und Brot in der Grafschaft.

Leinenwebstühle in der Grafschaft Bentheim 1861 - Aus: Butke, S. 21.
Hauptbeschäftigung Nebenerwerb Gesamt
Amt Bentheim 36 318 354
Amt Neuenhaus 661 153 814
697 471 1168
Infolge der sinkenden Erlöse ging zwar die Zahl der Berufweber stark zurück, vielen diente die Leinenweberei aber weiterhin als Zuverdienstmöglichkeit. In Schüttorf hatte die Bedeutung der Weberei besonders starkabgenommen. Entsprechend meldete das Amt Neuenhaus in einem Bericht vom Februar 1861: „Weberei wird hier von den Bauern mit seltenen Ausnahmen gar nicht, sondern nur von den Heuerleuten und kleinen Hausbesitzern getrieben und von den letzteren zu eigenem Bedarf ausschließlich gar nicht. Heuerleute und kleine Hausbesitzer verpflichten sich, ihren Verpächtern gegenüber, für diese das Leinen zu verweben, das in deren Haushalten gesponnen wird und [es] wird der Lohn entweder auf die Pacht oder auf die von den Verpächtern geleistete Pferdehülfe abgerechnet“ (Buttke, S. 21-22.).

Wenngleich aus Flachs hergestellter Leinenstoff im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Bekleidungsstoff weitgehend von der Baumwolle verdrängt wurde, blieb Leinen – quantitativ gesehen – als ein Nischenprodukt etwa für Tischdecken weiterhin gefragt, so dass bis ins 20. Jahrhundert der Flachsanbau im Bentheimer Land erhalten blieb. Er erlebte in Not- und Kriegszeiten immer wieder eine kleine Renaissance.

Quellen: - Butke, Irma, Zur Entwicklung der Textilindustrie in der Grafschaft Bentheim (Das Bentheimer Land, Bd. 14), Nordhorn 1939.
- Schwabe, Udo, Textilindustrie in der Grafschaft Bentheim 1800-1914 (Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte, Bd. 20). Hrsg. von der Emsländischen Landschaft für die Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim, Sögel 2008.
Flachsbündel und ein Riffelbrett, um die Samenkapseln vom Stängel zu trennen - Bild: Wikimedia Commons/Anneli Salo (CC BY-SA 3.0)
Aufruf der Bentheimer Firma ten Breujel Á Leverkink 1922 - Abb.: Aus: Zeitung und Anzeigeblatt Nr. 120 vom 07.08.1922
Im Zuge der Autarkiepolitik des NS-Staats wirbt ein Nordhorner Landwirtschaftsfunktionär dafür, wieder vermehrt Wolle und Flachs für die Bekleidung zu herzustellen, um von der Baumwolllieferung unabhängig zu werden. Aus: Nordhorner Nachrichten Nr. 256 vom 02.11.1934
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