Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Unterschichten

Helmut Lensing

Die Entstehung unterschiedlicher ländlicher Schichten im Nordwesten

Im frühen Mittelalter war Deutschland dünn besiedelt. Nur wenige Flächen wurden landwirtschaftlich genutzt. Der weitaus größte Teil des Landes war von Wald bedeckt, gerade im Nordwesten auch von Sümpfen und Mooren, die ein großes Verkehrshindernis bildeten. Dörfer lagen wie Inseln im Wald oder auf trockenen Hügeln im Moor oder Sumpf. Die langsam steigende Bevölkerungszahl führte dazu, dass immer mehr Wald gerodet oder Sümpfe entwässert wurden, um neues Land für Acker und Weiden zu gewinnen.

Im Hochmittelalter bot auch die Auswanderung in den Osten, in das heutige Polen, die Tschechischen Republik, die Slowakei oder auch nach Ungarn der überschüssigen Bevölkerung eine Perspektive für ein besseres Leben. Doch im ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit versiegte diese Möglichkeit.

Nun entstand im deutschen Nordwesten des Heuerlingssystem. Die ältesten Bauernhöfe in der Region, die als Vollerben bezeichnet wurden, besaßen privates Land und die Berechtigung, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse aus der Allmende zu befriedigen, der gemeinsamen Mark der Dorfgemeinschaft, die aus dem umliegenden „Ödland“ oder Wald bestand. Hier besorgte man sich Bau- und Brennholz, Plaggen zur Düngung des eigenen Feldes oder ließ dort Schweine, Schafe, Ziegen oder Kühe weiden.

Durch das Bevölkerungswachstum entstand die Notwendigkeit, neue Hofstellen, auch Hufen genannt, zu schaffen. Dazu wurde entweder „Ödland“ und Wald kultiviert oder das Land der Vollerben unter den Kindern geteilt. Die durch Teilung geschaffenen Höfe nannte man Halberben. Sie mussten lediglich die Hälfte der Gemeindelasten tragen, durften aber auch nur die Mark zur Hälfte nutzen. Da die Hofteilung aber nicht unendlich fortgesetzt werden konnte – so entstanden etwa die Viertelerben –, wenn ein wirtschaftliches Überleben der Bauern noch möglich sein sollte, wurde im deutschen Nordwesten das Erbrecht den neuen Umständen angepasst. Die Obrigkeit führte das Anerbenrecht ein, also die Vererbung eines landwirtschaftlichen Anwesens an einen einzigen Erben, in der Regel den ältesten Sohn, damit der Hof ungeteilt erhalten bleiben konnte.
Die durch Kultivierung geschaffenen Stellen traten vielfach in die Reihen der Vollerben ein. Die Geschwister der Anerben blieben, wenn sie nicht in einem Hof einheiraten konnten, häufig auf dem elterlichen Hof; sie bildeten hauptsächlich das Gesinde. Man hatte auf den Höfen kleinere Häuser errichtet und diesen einen Teil des Hoflands beigegeben. Diesen „Kotten“ wurde, wenn sie von abgehenden Bauernsöhnen mit ihrer Frau bewohnt wurden, eine beschränkte Markennutzung zugestanden. Je nachdem, ob Kotten auf Erb- oder Markengrund errichtet waren, nannte man sie Erb- oder Markkotten.

Brinksitzer bezeichneten zumeist die Ansiedler auf dem Brink, dem unbebauten Land am Rande der Mark. Auf vielen Höfen wurde für die Altenteiler ein kleines Haus geschaffen, die „Leibzucht“. Hierhin zog sich der Bauer nach der Hofesübergabe zurück. Zum Leibzuchthaus gehörte ein kleiner Acker, vom dem Leibzüchter weitgehend lebten. So differenzierte sich die bäuerlich-ländliche Bevölkerung immer weiter auf und besaß höchst unterschiedliche Rechte und Pflichten in der Dorfgemeinschaft.

Als nun die Bevölkerung immer weiter wuchs, aber die mühsame Kultivierung dem Bevölkerungswachstum nicht mehr nachkam, mussten die abgehenden Bauernkinder sehen, wovon sie sich ernähren sollten. Einige blieben als unverheirateter „Onkel“ oder ledige „Tante“ auf dem Hof. Sie erhielten für ihre Mitarbeit Wohnrecht und Nahrung, waren aber nicht besonders angesehen.

Andere abgehende Bauernsöhne, die heiraten wollten, zogen mit ihrer Frau in die Leibzucht, wenn diese leer stand, und bewirtschafteten abgelegene Hofflächen oder kultivierten ein Stückchen „Ödland“. Dafür waren sie dem Hofbesitzer, zunächst ihrem Bruder, zur Mithilfe auf dem Hof verpflichtet. Bald mussten auch Scheunen, alte Backhäuser und alle möglichen Gebäude zu primitiven Wohnhäusern umgebaut werden, da die Bevölkerungszahl wie die Wohnungsnot immer weiter stieg.

In diesem zunächst noch verwandtschaftlichen Verhältnis entwickelte sich eine gegenseitige Hilfestellung: Der Bauer gewährte Gespannhilfe mit dem Pferd. Dafür und für die Überlassung von Wohnung und etwas Land erhielt er als Gegenleistung vom abgehenden, nicht erbberechtigten Bruder mit dessen ganzer Familie Arbeitshilfe. So war es kein Zufall, dass der pachtende Bruder all die kleinen Feldstücke und Weiden erhielt, die sich für den Hof weniger oder kaum rentierten oder vielfach mit großer Anstrengung erst noch für eine lohnende Bewirtschaftung hergerichtet werden mussten.

Diese Erscheinung trat im gesamten deutschen Nordwesten auf. So war das Pacht-Arbeits-Verhältnis das Kernelement des Heuerlingswesens. Gedient war damit beiden. Der Bauer hatte einen eingearbeiteten Mitarbeiter, den er bei Bedarf sofort anfordern konnte, etwa wenn der Grundherr seine Dienste verlangte, und erhielt gegebenenfalls sogar Pachtgeld. Der abgehende Bauernsohn durfte heiraten und musste nicht als „Öhm“ auf dem Hof des Bruders in vollkommener Abhängigkeit leben.

Bald waren die größeren Höfe und adelige Güter von einem Kranz von Heuerlingswohnstätten umgeben. Solange die Eltern noch lebten, gab es Ausgleich und Versöhnung zwischen Bauer und seinem mit ihm verwandten Heuermann. Später zeigten sich in aller Regel deutliche Gegensätze. So ist dann nachzuweisen, dass sich spätestens die zweite Generation häufig eine Heuerstelle auf einem anderen Hof suchte.

So entstand die unterbäuerliche Schicht der Heuerleute, die sich aus den abgehenden Bauernkindern und dem Gesinde der Bauern, also aus Knechten und Mägden, rekrutierte. Bevor die Kinder der Heuerleute selbst eine Heuerstelle übernahmen, arbeiteten sie meist selbst als Knecht oder Magd bei einem Bauern. Im Laufe der Zeit überflügelten diese ländliche Unterschicht zahlenmäßig die Bauern in fast allen Dörfern des Nordwestens. Die Heuerleute bildeten zusammen mit den Knechten und Mägden, die in der dörflichen Rangordnung unter ihnen standen, aber vielfach aus ihren Reihen stammten, die große Mehrheit der Landbevölkerung. Allerdings – in Dorfangelegenheiten waren sie trotz ihrer großen Zahl gegenüber den besitzenden Bauern recht- und stimmlos.

Literatur
Lensing, Helmut/Robben, Bernd, „Wenn der Bauer pfeift, dann müssen die Heuerleute kommen!“ – Betrachtungen und Forschungen zum Heuerlingswesen in Nordwestdeutschland, Haselünne 2019 (9. leicht erweiterte Auflage).
Niehaus, Heinrich, Das Heuerleutesystem und die Heuerleutebewegung. Ein Beitrag zur Lösung der Heuerleutefrage, Quakenbrück 1924.

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