Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Nhs-1944

Ludwig Sager

Die Chronik des 2. Weltkrieges in Neuenhaus 1944


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2.1.1944: Wir geh'n dahin und wandern von einem Jahr zum andern. Wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen. Durch so viel Angst und Plagen, durch Zittern und durch Zagen, durch Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken.

So sang Paul Gerhardt z. Zt. des Dreißigjährigen Krieges, und die Gemeinde sang's gestern Abend beim Silvestergottesdienst bewegter denn jemals. Nun gehen wir ja selbst durch das Tal großer Schrecken und Ängste, durch Krieg und große Plagen. Das alte Jahr schloss mit Schrecken, und das neue begann damit.

Wie üblich hörten wir die Flieger früh am Silvestertage, nahmen uns den Schlaf und ließen uns an die denken, die es wieder trifft. Und nun die erste Nacht des neuen Jahres. Im ersten Schlaf das bekannte Heulen, monoton, nicht abreißend. Man zwingt sich zur Ruhe, will nicht aus den Federn, bis irgendwo Bomben fallen, oft ins Gelände, Türen und Fenster schüttern, ein Stoß durchs Haus — aus dem Bett in die Kleider, so weit sie zu finden, die Koffer gegriffen und in den Keller. Geht's eben an, treibt mich die Neugier vor die Tür: in Richtung Nordhorn helles Aufblitzen. Ein Bomber zerbarst in ungezählte glühende Teile, lange noch war der Horizont erleuchtet. Er zerschellte auf den Schienen der Bahnstrecke in Frenswegen. Vier Bomber im Warnbezirk abgeschossen.

9.1.1944: Landwachtstreife. Wir überwachen und stellen fremde Elemente auf den Straßen, vorige Nacht von 2-4 Uhr mit Nachbar Gerligs unterwegs, kommende Nacht bis 1/2 5 Uhr Rathauswache. Auch uns Alte findet man. Oft Kontrolle von Bürgermeister Winkelmann.

30.1.1944: Tag der Machtübernahme. Was blieb von der Begeisterung, die damals unser Städtchen erfüllte? Im Mittag, die Flieger brummten schon, Gedächtnisfeier, äußerlich noch der schöne Rahmen: Fahnen, Standarten und Uniformen. Kinosaal knapp ein Drittel besetzt, Amtsträger, Feuerwehr, einige SA-Männer, Beamte und hauptsächlich Hitlerjugend. Sonst gähnende Leere. Landwirtschaftsrat Wehr, der Festredner, sprach vom Kampf ums 1000jährige Reich. Um 12 Uhr plötzlicher Abbruch, einsetzender Alarm. Diesiges Wetter, es tobte in der Luft. Der Feind flog in Massen ein und gab den Auftakt zu den Feiern im Reich. In Bentheim und Frenswegen stürzten deutsche Jäger ab, in Bentheim im Stadtgebiet. Nach Entwarnung wieder Sirenenheulen, neuer Alarm. Aus dem Bekanntenkreis wieder zwei gefallen, Hermann Weerd aus Lemke und Schomaker aus Haftenkamp, tüchtiger Schüler, einziger Sohn, neues Leid, zerschlagene Hoffnungen.

Wie schwer auch die Zeit auf den Menschen lastet, es scheint alles, was unter 17, 18 Jahren alt ist, von dieser Last nicht viel zu spüren. Der Krieg wurde für sie normaler Zustand, die Mädchen flirten mehr als je auf Straßen und Bahnhof.

14. 2. 1944: Am 10. 2. gegen Mittag ungeheure Einflüge feindlicher Bomber, klare Luft. Die Pulke in 7000 m Höhe je 16 Maschinen wie aufmarschierende Bataillone leuchteten in der Sonne. Schwer ist's für die Jäger, an diese fliegenden Festungen heranzukommen, die müssen erst gesprengt werden. Abseits davon jagen und kämpfen einzelne Maschinen. Die Menschen auf der Straße lassen keinen Blick vom Himmel, der Angriff gilt uns nicht. Es stürzt einer, überschlägt sich und fängt sich wieder. Fallschirme öffnen sich, Menschen fallen vom Himmel. In Striepe, Laar, Bimolter Feld, Brandlecht liegen zertrümmerte Maschinen.

20.2. 1944: Nachts stundenlang Einflüge. Das macht nervös, Serien fallender Bomben in der Ferne.

24.2. 1944: Ich kann gleich fortfahren: bis heute ging's am laufenden Band. Einflüge und nochmals Einflüge, besonders am 21. 2., es kamen wohl 500-600 über unsere Stadt. Schießen, Einschläge, die Türen wollten aus den Angeln springen, immer neue Verbände. Lingen schwer mitgenommen, viele Tote. Vorgestern Riesenbrände in Enschede. Grade, wo ich schreibe, der Warnfunk: „Achtung, Achtung, starke feindliche Verbände Richtung Reichsgrenze!" Im Augenblick sichte ich einen Verband von 50 Bombern.

Als es am 21. 2. in Lingen so heiß herging, meldete der Wehrmachtsbericht: „Nur geringe Schäden." Wie bei Remarque: „Im Westen nichts Neues." — In der Osnabrücker Zeitung vom Sonntag standen 36 Todesanzeigen: „Gefallen durch Feindeinwirkung." Der Wahnsinn feiert Triumphe. — Ein Urlauber war bei mir und erzählte von Russland. Der 4jährige Enkel unterbricht ihn und fragt: „Hast du meinen Vater da nicht gesehen?" Der ist vermisst und modert, nach menschlichem Ermessen, schon lange in russischer Erde. Fragen, bei denen sich das Herz zusammenkrampft.

5.3.1944: Der Unterricht immer wieder unterbrochen. Wenn die Sirene zur Vorwarnung aufheult, eilt alles nach Hause, sonst ging's klassenweise in die Luftschutzkeller bei Teismann, Purings und Harger. Große Betonbunker entstanden am alten und neuen Marktplatz und am Bahnhof. Bei baldiger Entwarnung teilweise Rückkehr der Kinder, das bringt viel Unruhe.

Vom 3. auf den 4. hatte ich mit Rechtsanwalt Arends Rathauswache. Mehrfach wurde Luftwarnung durchgegeben. Da die Sirene versagte, kletterten A. und ich mit der Handsirene, ganz nach Vorschrift, mühsam auf das Türmchen des Rathauses und drehten das furchtbare Ding, ließen es über die schneebedeckten Dächer im Mondenschein über müde Menschen heulen.

6.3.1944: Heute Mittag starke Einflüge, beim Rückflug um 3 Uhr Luftkämpfe. Jetzt 4 Uhr wieder Luftwarnung. Seit 8 Tagen Schneetreiben, nachts Frost.

8.3.1944: Heftige Luftschlacht zwischen Zuider-See und Reichsgrenze, die Sirene trieb uns um 11 Uhr aus der Schule. Fernes Grollen, Maschinen mit Rauchfahnen, Fallschirme mit pendelnden Menschen. Auf der Straße die Neugier.

15.3. 1944: Einige Tage Ruhe. Heute vor 10 Uhr schon die Sirene. Vom Unterricht kommt nicht viel. Am 9. abends war's still, das Kino überfüllt: „Ball­paré". Da schütteln die Menschen den Ernst des Tages ab wie der Pudel Wasser und Flöhe. Märzwetter mit Schnee, Hagel und „Märtenbojen" — aber Drossel und Braunelle singen doch und verheißen bessere Zeit.

28. 3. 1944: Auf dem vollen Geburtstagstisch der Hausfrau gestern fehlte eins, der ersehnte Brief des Sohnes aus der Gegend am Don, wo schwer gekämpft wird. Dieses ständige Warten! Dann lässt die Sorge sich breit nieder und dämpft die Freude.

3. 4.1944: Bei Brinks in Getelo war ich, wo nun auch der zweite Sohn gefallen ist. Gestern Trauerfeier in Uelsen. Eine große, andächtige Gemeinde rang mit Pastor Schuhmacher um das Problem: warum das alles? Wen wollen wir anklagen? Ps. 73. Die Predigt hatte dramatische Höhepunkte, vorzügliche Problemstellung. Die Lösung im reformierten Sinne: du Mensch hast es nur mit Gott zu tun und er mit dir. Er will dich so weit haben, dass du aus der Tiefe und Verzweiflung zu ihm rufst, ihn erkennst und seinen Weg mitgehst. — Leid, Not und Bangen in aller Augen, nie sah ich in der alten Kirche eine so andächtige Gemeinde.

Heute eine Kiste Kartoffeln nach Oberhausen geschickt, bei den Verwandten dort ein Elend, kaum Gemüse und ständig im Keller. Der Krieg nimmt furchtbare Ausmaße an. Wir leben hier noch wie auf einer Insel in der Südsee.

9.4.1944: Ostersonntag. Es könnte ein schöner Frühlingstag sein; doch rauscht es wieder in den Lüften, nachdem wir fast acht Tage Ruhe hatten.

11. 4.1944: Das Gebrumme reißt kaum noch ab. Ein Flugzeug stürzte in der Borg ab bei Atmann. Qualmsäule ging hoch, ein pendelnder Mensch trieb nach Veldhausen ab. Er war ganz erstaunt, als er unbehelligt abgeführt wurde.

16.4.1944: Tiefflieger beschossen die BEB zwischen Veldhausen und Esche, Lokführer und Heizer verletzt, Führerraum zeigte 15 Einschüsse von Bordkanonen. Sonst auch Leute beschossen, es wird ernster. — 14.4. politische Versammlung. Ein junger, bebrillter Bannführer: „Wir sind vom Schicksal begnadet, so große Zeiten erleben zu dürfen". Man fasst sich dabei doch an den grauen Schädel.

23.4. 1944: Es gibt auch Optimisten, die sehen die Dinge nach Vorlage. Bei D., Akademiker, diese einfache Einstellung: „Wir müssen nur erst England fertig machen, dann ist Russland ein leichtes." So malt sich in unpolitischen Köpfen die verzweifelte Lage.

23. 4.1944: Fortsetzung am Nachmittag. Der Krieg meldete sich unmittelbar in Neuenhaus an. Zwei Tiefflieger griffen den Bahnhof an. Kurzes, heftiges Schießen. Harte Aufschläge, Prasseln zerriss den sonntäglichen Mittagsfrieden. Kalk staubte von der Vorderfront des Bahnhofs und vom Buddenbergschen Hause. Die Menschen kamen mit dem Schrecken davon.

14.5.1944: Gestapo ließ G. B. aus Lage nach Lingen abführen, wir zerbrechen uns den Kopf nach dem Warum. Viel Scherereien.

21.5.1944: Die Invasionsfurcht wird allmählich zur Nervenkrise. Die Behörden glauben, dass es täglich losgehen kann; alle Maßnahmen sind getroffen für den Fall, dass hier eines Morgens Tausende von Fallschirmjägern landen. Müssen wir räumen?

29.5.1944: Pfingsten gestern und heute. Viel Sonne und Wärme, viel Grün und die Welt in Blüte, und viele Bomber, die seit gestern zu Hunderten einfliegen und ungehindert Not und Tränen bringen. Züge beschossen, tot Lokführer Hindrik Schlüter, der stille, in sich gekehrte Mann.

31.5.1944: Auch heute Alarm und Einflüge, in Bentheim Tiefangriffe auf den Bohrturm, Tote und Verletzte, wie es heißt; besorgte Gesichter und gedrückte Stimmung.

7. 6. 1944: Gestern setzte die langerwartete Invasion bei Cherbourg ein. Feind bildete Landungsköpfe, und das ist entscheidend. Die Würfel sind gefallen.

18. 6.1944: Heftige Kämpfe in der Normandie. Ich sehe nicht so klar wie die klugen Optimisten: Absicht der Obersten Heeresleitung, den Feind in Massen hereinzulassen, um ihn endgültig zu vernichten. So der parteiamtliche Trost. — Bittere Nachricht von Brecklenkamp: von Brookhuis ist nun auch der ältere Bruder gefallen. Immer wieder musste ich seine Briefe lesen. Wie hing er an dem Hof!

Am 16. 6. lakonischer Satz im Wehrmachtsbericht, neue Waffe mit hochexplosiver Wirkung, die Vergeltung für London, jetzt eingesetzt. In der Beurteilung trennen sich zwei Gruppen, die eine sieht England schon ausgeschaltet, die andere, meist ältere Jahrgänge, erinnert an April 1918, als Ferngeschütze auf 110 km Paris beschossen und die Wundergeschütze nach wenigen Tagen schwiegen. Hellseher und Schwarzseher! Zeitungen sind voll Jubel und Hoffnung.

29.6.1944: Die Sirene jagte uns aus der Schule. In Haftenkamp fielen Bomben (oder war's Gölenkamp?). Eisenbahnzug bei Brandlecht beschossen. Sachschaden. — Ölraffinerien, Flugzeugwerke, Flugplätze: die Bomber finden sie alle. Gerade trete ich hinters Haus und zähle 93 heimkehrende Bomber, 10-15 kreisende Jäger als Jagdschutz.

10. 7.1944: Gestern und vorgestern „Wochenendschulung" der Partei in der Kreisschule auf der „Waldruh" bei Bentheim.

19. 7. 1944: Katastrophal scheint's im Osten an der Mittelfront zu sein. Überall Sorgen und Fragen: ist unser Soldat aus dem Kessel herausgekommen? Viele schreiben nicht. Gestern morgen, ich jagte früh in Hardinghausen, wieder Einflüge nach etwas ruhigen Wochen. Dort verheerende Kaninchenplage, Hunderte nagen die Äcker kahl. Ein Stück Wild ist beim Schneider, Schmied und Schuster vollgültiges Zahlungsmittel, lässt sich auch in Speck umwandeln und macht alle Menschen hilfsbereit.

28. 7.1944: Am 20. 7. Attentat auf Adolf Hitler, das tiefe Hintergründe aufdeckte. Was wollte die Opposition der gegnerischen Generäle?

6.8.1944: Diese Opposition war doch nicht so harmlos, sie zog weite Kreise und hatte im Großen Generalstab ihre Basis. Himmler greift feste durch. In der Beurteilung wieder zwei Gruppen, die eine fragt besorgt: „Was wäre gekommen, wenn der Anschlag Erfolg gehabt hätte?" Die andere ebenso besorgt: „Was kommt nun ... ?"

Mit diesen beiden Gruppen werden die beiden Fronten in der Bevölkerung sichtbar; in einer Kleinstadt wie Neuenhaus kennt jeder ihre Abgrenzung. Das verbotene Abhören fremder Sender verstärkt diese Fronten. Wo zwei oder drei Nachbarn tuschelnd die Köpfe zusammenstecken, da werden oft Mitteilungen fremder Sender weitergegeben, oder es wird vor Lauschern am Fenster gewarnt. Jeder kennt den andern, jeder ist freundlich zum andern; aber keiner lässt sich aus der getarnten Deckung herauslocken. So blieb Neuenhaus, gewissermaßen innenpolitisch, vor Peinlichkeiten bewahrt, die anderwärts viel böses Blut machten.

Schwägerin schrieb von Leslau an der Weichsel, sie müssten bald räumen, der Osten sei bedroht.

Ein Neuenhauser erhielt das Ritterkreuz, der tapfere Walter Joseph. Großer Empfang und Begrüßung am Bahnhof, Ehrenbogen, Festsitzung im Rathaus.

18.8.1944: Amerikaner auch in Südfrankreich Fuß gefasst, die Russen vor Ostpreußen.

31. 8.1944: Rumänien schwenkte ab, Bulgarien folgte. In Frankreich scheint's zur Katastrophe zu kommen, der Feind bei Reims. Stimmung dem entsprechend. Auch der Kreisparteitag im Nordhorner Stadion am 27.8. änderte nichts daran. Wohl festliches Bild, als Joel redete, aber der Schwung fehlte bei den aufgebotenen Massen. Dafür plötzlich einsetzende Luftgefahr, alle unter die Bäume in Deckung.

10. 9. 1944: Ab 4. 9. stürmische Nachrichten von Holland, der Feind soll schon auf niederländischem Boden stehen. Dort läuten die Freiheitsglocken. Züge werden gesprengt; hier beschäftigte Bauernknechte aus Holland sind auf und davon, wittern Morgenluft. Reichsdeutsche kommen bedrückt und verängstigt zurück, sind dort in steter Gefahr.

18. 9. 1944. Gestern landeten feindliche Luftstreitkräfte hinter den deutschen Linien bei Nymwegen und Arnheim. So rückt uns der Krieg näher auf den Leib. Gestern Abend allgemeine Aufregung, wird die Heimat Kampfgebiet? Viele wollen packen. Wir geben die Losung: Ruhe bewahren und hier bleiben. — Heftige Fliegertätigkeit, fast stündlich geht die Sirene.

24. 9.1944: Gestern Abend Höllenspektakel in der Luft, holten Bernd B. von der Bahn, da heulte es auf, wir warfen uns an die Mauer, Bomben, Scheibenklirren, Deckung suchend, stürzte im Dunkeln alles an die Seite. — In der Borg, diesseits Horsink, waren 12 schwere Bomben gefallen, alle günstig. Dachschaden.

29. 9. 1944: Es hat sich am 17. 9. doch um einen ernsthaften Versuch der Feinde gehandelt, über Arnheim in Westdeutschland einzufallen. Prodeutsche mussten vor eigenen Landsleuten flüchten, u. a. ein Bürgermeister und ein Lehrer, der an der Schule in Hilten aushelfen soll. Dann A. K., ein alter Bekannter, der mich aufsuchte. Viel Tragik. Um ihres Glaubens an Deutschland willen, das sie im 3. Reich sahen.

8.10.1944: Stundenlang wummerte es am Horizont, als wir in L. jagten. Front kommt näher. Den 5. 10. in Nordhorn etwa 45 Bomben gefallen, Häuserschaden in Lingener und Neuenhauser Straße. Fabriken bleiben merkwürdigerweise verschont. Bahnhof in Rheine nebst Bahnanlagen zerstört. — Lokführer K. Riehl hier auf der Strecke schwer verwundet. Es wird unheimlich, Bahnfahrten gefährlich.

19.10. 1944: Am 17. rückte hier eine Kompanie Soldaten ein, Nachrichtentrupp, etwa 200 Mann. Zunächst Schulklassen ausgeräumt, dann Privatquartiere. — Bevölkerung zum Schanzen kommandiert, „Einmannlöcher" links und rechts der Straße in 150 m Abstand, zur Panzerbekämpfung.

„Volkssturm" aufgeboten. „Der Sturm bricht los!" Wird es hier ernst? Fremde, die sich hier bislang wohlfühlten, verlassen Neuenhaus. Lautes und stilles Fragen: müssen wir die Heimat verlassen? Da fühlt man erst, wie sehr man ihr verhaftet ist. — Verkehr stockt, kein Salz, kein Koks für die Schulen.

29.10.1944: Gestern in Klein-Ringe gejagt. Von Emlichheim erklangen die Abendglocken, den Sonntag einläutend — dann in der Ferne dröhnten Abschüsse, barsten Bomben: so spaltet sich die Welt.

4. 11. 1944: Heute Vormittag wieder Bahnhof beschossen, als gerade ein Transportzug eingelaufen war, Lok wie ein Sieb durchlöchert. Große Aufregung. Ich hatte gerade nach öffentlicher Luftwarnung die Schulkinder entlassen, als ich die Tiefflieger sah. Konnte die Kinder noch eilends in die Keller holen. Am 2. 11. Lokführer van der Kamp in Laarwald durch Kopfschuss gefallen, im September Dietrich Berentzen von hier und Lehrer Rieke aus Hilten gleichfalls auf der Strecke bei Bahnangriffen.

9.11.1944: Über uns der fliegende Tod, das ist diese Tage Inhalt aller Gespräche. Schwer lastet der Druck. Am 6. 11. Angriff auf den Zug bei Veldhausen, Tiefflieger, 4 Tote, 2 Schwerverletzte, auch Kinder, desgleichen Heizer Gerh. Lohuis von der Lok, tot.

Gestern war ich in Schüttorf, 3 mal den Keller aufgesucht, Schüsse auf Güterwagen am Bahnhof. Letzte Nacht fiel eine Bombe in Veldhausen. 2 Häuser stark mitgenommen (Hager), 5 Tote. Roter Schein, Leuchtkugeln hier über dem Bahnhof ließen mich doch Frau und Kinder alarmieren, damit sie in den Keller gingen. Auch die Nachbarin nebenan, Frau W., hockt sich mit ihren verschlafenen Kindern dann zu uns.

19.11.1944: Astern schmücken den Tisch für eine kleine Familienfeier, in üppiger Fülle blühen sie noch im herbstlichen Garten. Außerhalb begegnen uns allenthalben Mangel und Not, keine Tasse, kein Messer, kein Heft, keine Tafel mehr zu kaufen. Sündhaft teure Preise: 1 Stück Seife 12 RM, 100 Gramm Tee 250 RM. Das sind jetzt fürstliche Geschenke auf dem Gabentisch. — Heute Gottesdienst durch Fliegeralarm unterbrochen. Die Männer fehlten fast ganz: die nicht im Felde stehen und noch halbwegs die Schuppe gebrauchen können, werden sonntags zum Schanzen kommandiert, nach Hestrup, Neerlage, Wengsel. Hier werden Panzergräben ausgeworfen.

29.11.1944: Nach Regentagen klares Wetter und rege Fliegertätigkeit. Mehrfach Alarm. Angriffe auf die Eisenbahnbrücke Richtung Veldhausen, 500 m vom Bahnhof, Bomben verfehlten ihr Ziel, fielen neben den Bahnkörper. Mit den im Garten spielenden Kindern flog ich in den Keller.

Am 25. 11. erster Dienst im Volkssturm, Schießen beim Judenfriedhof. Damit auch die Alten das nicht verlernen.

4.12.1944: Alle Tage Tiefangriffe auf den Vormittagszug, auch heute, Panik auf der Straße. Schießen in Grasdorf, 11 Verwundete im Zuge. Die Wagen durchsiebt, im Innern ein Chaos von Glas- und Holzsplittern. Tageszüge sollen in Zukunft ausfallen. — Auf der Straße werden auch Autos angegriffen. Gestern fanden sich die Fahrer, als sie schnellstens in Deckung flüchteten, im Wasser des Straßengrabens wieder. Die nach Nordhorn zur Arbeit fahren, erleben unterwegs gefährliche Abenteuer.

6.12.1944: Vom Unterricht kam nicht viel. Unterricht im 6. Kriegsjahr — ein trübes Kapitel. Um 1/2  3 Uhr endlich Entwarnung. Gerade hatte ich wieder begonnen, den Ofen aus „requirierten" Holzbeständen in Gang gebracht, heulte die Sirene aufs neue auf.

8.12. 1944: Heftiges Schießen und Krachen. Lok und Bahnwagen von Tieffliegern in Frenswegen beschossen, Fahrer retteten sich.

10. 12. 1944: Sonntag, wir setzten uns grade zu Tisch, als es draußen aufheulte, krachte, schoss, splitterte. Fluchtartig in den Keller. Wie üblich, nachdem der Spuk verzog, sofort gegenüber in die Bahnhofstraße, bei Familie M. zersplitterte Scheiben, Kalkstaub; ganz verstört noch im Keller die Enkelinnen mit der Mutter. Bei Tisch waren über dem Bahnhof 2 Tiefflieger gesichtet, alle aufgesprungen und voller Hast aus dem Zimmer. Gerade war der Flur erreicht, als es schon durch die Fenster prasselte und Explosivgeschosse das Esszimmer verwüsteten. Tisch, Stühle, Essgeschirr zersplittert, Wände und Bilder voller Einschläge, Scherben und Fetzen. Kalkstaub wirbelte noch von der Decke. Ein gütiges Geschick hatte Mutter und Kinder und 2 weitere Anwesende vor grässlichem Blutbad bewahrt, es ging um Sekunden.

17.12.1944: Die Schule fährt schlecht bei dem ewigen Alarm, das ist meine große Sorge: urplötzlich kommen die Kinder in größte Gefahr, und bei mir liegt die Verantwortung.

24.12. 1944: Abends die bittere Nachricht, dass mein Schüttorfer Schulfreund Wilhelm Lammering, Lokführer, an Verwundung gestorben ist. Zwei Tage vorher war er auf der Maschine von Bordgeschossen getroffen. Ein charaktervoller ruhiger Mann, der nie Soldat war. Es sei denn vor 50 Jahren, als wir im alten Tannenkamp an der Quendorfer Straße „Soldaten" spielten.

Quelle:
Jahrbuch des Heimatvereins Grafschaft Bentheim 1956, bearbeitet von Georg Kip, Bentheim o. J., S. 108 - 125

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